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13 Jahre Isolation
Genie – ein Mädchen, dessen Pseudonym bis heute für eines der erschütterndsten Beispiele extremer Isolation in der Entwicklungspsychologie steht. Seit sie etwa 20 Monate alt war, wurde sie von ihrem Vater fast vollständig von der Außenwelt abgeschottet. Eingesperrt in einem abgedunkelten Raum, gefesselt auf einem Kindertöpfchen – jede Bewegung, jedes Geräusch war verboten. Bis zu ihrem 13. Lebensjahr beschränkte sich ihr Leben auf die immer gleichen vier Wände.
Nicht existent für die Außenwelt. Verkümmert, verwahrlost, verloren.
Die Befreiung
Im November 1970 wurden endlich Behörden auf das Kind aufmerksam.
Genie war zu diesem Zeitpunkt keiner Sprache mächtig.
Ihre motorischen Fähigkeiten waren extrem eingeschränkt und
soziale Verhaltensweisen gänzlich unbekannt.
Der Kampf um Sprache und Bindung
Im Children’s Hospital Los Angeles begann ein multidisziplinäres Team aus Psychologen, Linguisten und Pflegekräften, sie zu fördern. Innerhalb weniger Wochen zeigte Genie beachtliche Fortschritte: Verbesserungen in der motorischen Koordination, erste Wortversuche, kleine Gesten der Zuneigung. Sie begann, nonverbal zu kommunizieren – und zeigte Interesse an Puppen, Farben und vertrauten Personen.
Forschung an der Grenze zur Ethik
Linguisten wie Susan Curtiss (UCLA) untersuchten, ob Genie trotz der verpassten frühen Entwicklungsphase noch Sprache erwerben konnte. Sie sorgte dafür, dass Genie lernte, Wörter zu verstehen, einfache grammatische Strukturen zu nutzen – ein Versuch, die Grenzen der sogenannten „kritischen Periode“ für Sprachentwicklung auszuloten.
Eine vollständige Beherrschung einer Sprache gelang nie.
Auch ihre emotionalen und motorischen Fähigkeiten konnten sich nicht über ein niedriges Niveau hinaus entfalten.
Der Fall Genie wurde zu einem Zerrspiel zwischen Forschung, Behörden und der Presse.
1978 untersagte ihre Mutter die weitere Forschung am Kind.
Seither lebt sie abgeschieden in den U.S.A.
Was bleibt – ein Fall mit bleibender Bedeutung
Die Tragödie um Genie zeigt einmal mehr, dass Menschlichkeit eine essentiell wichtige Rolle in der Entwicklung des Menschen spielt. Empathie, Verständnis, Beziehung,
Wertschätzung, Freiheit, Liebe. Diese Begriffe sind keine Modeerscheinungen moderner Pädagogik, sondern fundamentale Bedingungen, damit ein menschlicher Körper & Geist
das ihm innewohnende Potenzial entfalten kann.
Beleben der Menschlichkeit
Genie erinnert uns schmerzhaft daran, wie wichtig wir Menschen füreinander sind. Ihre Qualen verdeutlichen, dass soziale und emotionale Entwicklung keine Nebensache ist – sie ist lebensnotwendig.
Obwohl diese Fakten seit Jahrzehnten zum wissenschaftlichen Konsens gehören,
leben wir weiterhin in einer Zeit, die vom Konkurrenzgedanken dominiert wird und
die wenig Aufmerksamkeit auf die Ausbildung emotionaler und seelischer Gegebenheiten aufbringt.
Schade.
